Am nächsten Morgen nahm ihn sein Vater Jules in die Arme und sagte „ta mère est au ciel avec les anges“.
Ein warmes Gefühl umströmte seinen Körper, während ihn gleichzeitig eine eisige Kälte durchfuhr. Sein Körper fühlte sich an, wie als er manchmal im Sommer am Zürihorn in den Zürichsee sprang, kalt — warm — kalt.
Die nächsten Jahre lehrten ihn, sich an diesen Wechsel zwischen Wärme und Kälte zu gewöhnen.
Von nun an war sein Vater sein Nordstern. Es fühlte sich an, als wäre sein Kopf gewaltsam um 180 Grad gedreht, in Richtung seines stolzen Vaters herumgerissen worden.
Jules war ein einsamer Mann, mit den wärmsten blauen Augen der Welt. Augen, die meinten, was sie sagten. Sein Blick schweifte oft in die Ferne, wie der Blick eines Seefahrers.
Nun schaute sein Vater ihm direkt in die Augen und fuhr ihm zärtlich über den Kopf. In dieser leicht angerauten, warmen Stimme, in diesen hellblauen Augen, lag die kalte Gewissheit, dass es wahr ist, Mama ist jetzt bei den Engeln.
“Il faut que tu t’habilles tout seul, maintenant. C’est dimanche, dans une heure, on part pour l’église. Il n’y aura pas trop de monde.” Als Jules seinen Sohn mit den vom Fußball spielen verschmutzten schwarzen Sonntagsschhuhen und mit der schief sitzenden schwarzen Kinderfliege sah, spürte er einen scharfen Stich im Herzen. Es war die richtige Entscheidung. Er konnte sich alleine nicht um den Jungen kümmern.
Es war nicht alleine die Entscheidung von Raoul‘s Papa, sondern auch die der Stadt Zürich. Ein Junge ohne seine Mutter war für die Stadtverwaltung ein Waisenkind.
Wie hätte sich Jules auch gegen diese Interpretation stellen können, wenn sie ihm selbst so beigebracht wurde? Er hatte selbst einen großen Teil seiner Kindheit im Internat verbracht. Das ist vererbt, auch sein Enkel musste ins Internat.
Schließlich wollte Jules das Beste für den Jungen, und das konnte er ihm nicht bieten. Seine Trauer war unermesslich, schon wieder wurde er von
Es war ein schöner Gottesdienst, in der St. Anton, derselben Kirche, in welcher Raoul getauft wurde. Wie sein Papa schon sagte, waren nicht viele Gäste da. Eltern, Geschwister, ein paar nette Menschen von Christian Science, der Religion, in welche sich die Mama die letzten Jahre geflüchtet hatte.
Obschon Jules die Leute nicht mochte, war er freundlich zu ihnen. Sie waren die einzigen, die ihm vorurteilsfrei und mit unverstelltem Mitgefühl begegneten. Ein paar Soldaten aus der Truppe waren auch gekommen.
Bei Christian Science wird die Kraft des christlichen Glaubens als heilender eingeschätzt, als Medikamente.
Ein ärztliches Mittel gegen Asthma existierte damals leider noch nicht. Erst nach Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Wissenschaft endlich angefangen, diese vererbliche Krankheit besser zu verstehen.
Das einzige Mittel, das Raoul‘s Mama jeweils zu schönen Stunden verhalf, war ein guter Kaffee und der Unterbruch ihrer Einsamkeit durch ihren hübschen Sohn. “Il faut que tu te concentres mieux”, sagte sie ihm mit liebenden Augen, wenn sie jeweils seine Hausaufgaben kontrollierte. Sie versuchte dabei, streng auszusehen.
Da er sie lieb hatte, tat er so, als würde es funktionieren.
Als die Leute vor der Kirche Raoul kondolierten, fragte er sich, ob ihre Familie wohl seinem Papa die Schuld gab. Als hätte er sich zu wenig um sie gekümmert.
Unnachgiebig hatte Jules alle medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft, in den zehn Jahren, die sie zusammen hatten. “Merci beaucoup de tout ce que vous aviez fait pour nous aider,” bedankte er sich aufrichtig und verlegen bei der Familie seiner Mutter.
Das Mitleid in den Augen seiner Onkel und Tanten beschämte Raoul. Auch wenn er dieses Gefühl noch nicht gut kannte, fühlte es sich falsch an. Er fühlte sich, als wäre er ein Unfall, Teil einer unglücklichen Geschichte, einer Abweichung von der Norm. So, wie es bisher seine Mutter getan hatte, verursachte nun Sein Anblick ein schlechtes Gewissen in ihnen.
Also versuchte Raoul, bei den Onkel und Tanten den Eindruck zu vermitteln, dass es ihm gut ging. “Merci pour le massepain que vous m’aviez envoyé, je l’ai partagé avec mes amis”, sagte er seiner Tante Rica, obwohl er sich schon brieflich bedankt hatte. Mama hatte ihm noch beim Dankesschreiben geholfen — eine seiner letzten schönen Stunden mit ihr.
Raoul kannte vor allem Onkel Willy und seine Frau Rica, er durfte auch schon einen Sommer bei ihnen verbringen. Sie waren nett, grosszügig. Auch Rica mochte die Mama sehr, sie schrieben einander Briefe.
Opa Emil war schon vor fünf Jahren gestorben. Noch bevor er mit seiner Frau Ottilia und den Kindern in die Schweiz kam, war er zum katholischen Glauben konvertiert. Er arbeitete als Schweizer Vertreter für die Böhmische Glashütte in Hausbrünn, dem heutigen Usbrno.
Sein Vater, Ignatz Fleischner, ein Träger des Goldenen Verdienstkreuzes, hatte die Glashütte über 50 Jahre lang geleitet, bevor der älteste Sohn Moriz die Verwaltung der Karlshütte, benannt nach dem Gründer Karl Maria von Strachwitz, übernommen hatte.
Zu Hause war es still, das zuverläßige Hustengeräusch, die unregelmäßige Erinnerung an die Trauer, war verschwunden, jetzt blieb nur der Schmerz. Die Stille in der Wohnung übertrug sich auf Raoul’s Gedankenwelt, sie breitete sich in seinem Kopf aus, wie übergeschwapptes Blumenwasser, welches langsam vom Tischtuch aufgesaugt wird. Die Stille wurde zum festen Bestandteil seiner Persönlichkeit. Sie wurde zur Superkraft, die ihn vor Schmerzen schützte. In seinem Leben würde ihm nie mehr jemand solches Leid zufügen, dachte er damals. Aber, was hätte dieses Leid dann für einen Sinn ergeben?
Papa saß im weißen Unterhemd da, wie ein Überlebender aus dem Krieg. Seine Militäruniform lag schon gebügelt auf dem Wohnzimmertisch. Vor seinem Umzug in die Schweiz hatte er in Venedig für American Express gearbeitet. In Mussolini’s amerikafeindlichem und adelsfeindlichem Italien wollte Jules eigentlich auch nicht bleiben. Ein Monat vor Raoul’s Geburt ist er schließlich nach Zürich und hat Elisabeth (Lilly) Fleischner geheiratet. Verliebt hatte er sich in diese hübsche junge Frau, als er noch in Neapel war. Sie war wegen dem Meeresklima von ihrem Arzt hingeschickt worden. Zum Unterhalt arbeitete sie in einer Fabrik, was Papa’s edle Familie dazu verleitete, sie herablassend zu behandeln. Das war die Begründung. Er sollte sich nicht mit ihr einlassen, tat es aber trotzdem, denn dieser romantische Neapolitaner hatte sich verliebt.
Für die Zürcher war Jules anfangs bloß ein italienischer Einwanderer. Nicht der Sohn einer Napoletanischen Marchesa und einem Schweizer Vater aus einer Fribourger Gründerfamilie.
Mit einfachen Jobs hielt sich Jules in Zürich erst mal über Wasser. Er war für die Deutschschweizer ein Tschingg, das Zürcher Schimpfwort für italienische Einwanderer. Dabei sprach der studierte Ingenieur fließend English, Französisch und Italienisch, aber kein Schwiizer, - oder Züridüütsch. Sein Herz sprach die Sprache seiner Mutter; Napoletanisch - seine Musik war Caruso.
Jules erzählte jedem, seine Mutter sei die “Principessa di Napoli“. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie sich offiziell um 10 Jahre jünger machen lassen, um einen Engländer zu heiraten, mit welchem sie sich dann nach Lugano abgesetzt hatte.
Seine Mutter und der englische Stiefvater hatten sichergestellt, dass von den Silberminen in Sizilien und dem restlichen Vermögen seines Vaters am Ende nichts mehr übrig war.
Im Schweizer Militärdienst konnte Jules endlich jemand sein. Da konnte er sich verdient machen. Als Feldwebel genoß er endlich Ansehen.
Auch heute hat die Armee in der Schweiz den Rang einer zweiten Religion, auch im zivilen Bereich. Vor allem als Offizier oder Unteroffizier, konnte man praktische Management Erfahrung sammeln.
Im Herbst 1939, nachdem Hitler Polen überfallen hatte, mussten nun alle wehrfähigen Schweizer in die Armee einrücken. Inzwischen waren einige Soldaten zwar wieder zu Hause, um ihren in dieser Zeit sehr benötigten Beruflichen Pflichten nachzukommen.
Zum zweiten Landsturm in Bad Ragaz musste jedoch auch Jules einrücken. Denn, als Feldweibel musste auch er die Organisation in der Truppe sicherstellen.
“Qu’est ce que tu fais, Raoul - ho preparato un buon piatto di spaghetti al Aglio e Oglio - viens manger!” rief Jules am Abend nach der Beerdigung seinem Sohn zu. “A table!“
Die Stärke der Nudeln wirkte wie reiner Kristallzucker, und der im Olivenöl angebräunte Knoblauch reinigte den Körper von allem Übel. Für einen kurzen Moment schien die Welt in Ordnung zu sein.
Als sie fertig gegessen hatten, wurde Jules‘s Stimme jedoch ernst. “Ecoute, mon fils. Il faut qu’on parle”. “Je dois aller défendre la patrie, et tu sais bien que je ne pourrai de toute façon pas m’occuper de toi. Pas comme il te faudrait“.
Da sich Raoul ein Leben außerhalb seines gewohnten zu Hause noch nicht vorstellen konnte, antwortete er nur mit einem kurzen “Oui, je comprends, Papa”.
Am nächsten Tag war Sonntag. Nach der Kirche packte Raoul seine Koffer, und am Nachmittag brachte Jules ihn ins Artherguet.
Das Kinderheim Artherguet war nur wenige Strassen von zu Hause entfernt, eine Villa mit schönem Garten.
Bald danach kam Raoul jedoch ins streng katholisch geführte Kinderheim in Neu Sankt Johann, im Kanton Sankt Gallen.
Dort herrschte ein geregelter Alltag. Morgens wurden die Jungs zusammen in den Waschsaal getrieben und mit einem kalten Wasserschlauch abgespritzt. Dann wurde gebetet.
Urlaub bestand vor allem aus dem langen Sommerurlaub. Für Raoul hieß das, auf einem Bauernhof zu arbeiten. Er durfte in der Scheune, oben auf dem Heuboden schlafen, und um 9 Uhr war täglich die erste Arbeitspause, da gab’s manchmal sogar ein Stück fett zum Brot.
In dieser Zeit sah Raoul seinen Papa nur sehr selten. Jules verwaltete eine Kaserne, in welcher deutsche Flüchtlinge aufgefangen wurden.
Nach dem Krieg betitelte Jules die Deutschen jeweils nur mit “Les Sales Boches!“.
Dass die Hälfte seiner Urenkel Deutsche sein würden, konnte er nicht ahnen.
Mit fast 14 Jahren kam Raoul nach Zürich zurück. Die Schulpflicht war vorbei, und sein erster Job als Küchenjunge wartete auf ihn.
Jules hatte nochmal geheiratet, und Raoul durfte bei seiner neuen Stiefmutter wohnen. (Wenn Ihr auf Wiki nach der Definition einer Stiefmutter sucht, erscheint zuoberst ein Bild von ihr.)
Wenn seine Stiefmutter mit ihm schimpfte, das war noch in 1943, sagte sie, von seiner jüdisch - stämmigen Mutter wissend, „Wenn Du nicht gehorchst, rufe ich bei der Deutschen Botschaft an, dann holen sie Dich ab und bringen Dich zu Hitler!“