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1.1. Lilly
Kapitel 1

1.1. Lilly

1940

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Eduardo de Leon
Jun 05, 2025
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This post is from my ongoing novel project KINSALE. If you’re enjoying Komm to Germany, you might like this story as well. (It is in German) -
Eduardo de Leon

Die Nachricht erreichte Raoul während der Deutschstunde, als Fräulein Kleiner aus einem Roman am Vorlesen war.

Die Suche nach dem Sinn dieser Nachricht endete erst, als er fast 95 Jahre alt war.

Der riesige Hof der Primarschule Ilgen in Zürich war wie eine Pizza mit Eispfützen belegt, und die Linden waren noch kahl. Manchmal schien ein bisschen Sonne auf den Platz zwischen den imaginären Toren, der Treppe und dem Gestrüpp am anderen Ende, wo die Kinder in den Pausen mit kleinen Steinen Fussball spielten.

Der Roman handelte von einem jungen Mann, der sich im ersten Weltkrieg der Kaiserlichen Armee angeschlossen hatte, wodurch dieser junge Schweizer Landesverrat beging. Spätestens seit dem Wiener Kongress galt für die Schweiz der Grundsatz der Neutralität. Wer als Schweizer für ein anderes Land kämpfte, verriet dadurch die Schweiz. Für Raoul und seine Freunde war der junge Mann im Roman ein Held, denn er war ein Kämpfer.

Erst kürzlich hatte auch Hitler dem Land zugesichert, dass er dessen Neutralität achten würde. Kurz danach hat er Polen überfallen. Das war im Herbst, seither spielten die Jungs auf dem Schulhof mit den schneebelegten, eisig kalten Holzstöcken den Krieg nach. Samstags durften sie ihn dann manchmal im Kino in den Nachrichten sehen.

Raoul hielt sich beim Spielen etwas zurück, er war schüchtern und ernsthafter als seine Schulkollegen. Er lächelte selten, seine schattierten Unterlider untermalten seine graublauen Augen, die in die weite Ferne in seine Zukunft schauten.

Obwohl er fleißig war, schien sein Kopf immer woanders zu sein. Nachmittage lang sass er machmal, mit seinem gepflegten Seitenscheitel, aufrecht am Schreibtisch seines Vaters und machte Hausaufgaben. Jedoch gelang es ihm einfach nicht, sich richtig zu konzentrieren.

Dann freute er sich enorm, wenn ihn Mama endlich zu einem Spaziergang aufforderte. Sie war die beste Mutter, die man nur haben konnte, sie liebte ihn sehr, und sie schimpfte nie wirklich.

Nachdem es an der Tür geklopft hatte, stand Fräulein Kleiner auf und trat in den hohen Flur hinaus. Obwohl sie leise sprachen, konnte Raoul jedes Wort verstehen, denn er saß ganz vorne.

Er hätte ahnen müssen, dass dieses tiefe, endlose Husten eine Ankündigung war. Die ganzen Aufenthalte in Davos hatten auch nicht mehr geholfen. Dass auch ihre Schwermütigkeit mit der Luftnot zusammenhing, konnte der Kleine noch nicht verstehen.

In einem einzigen Augenblick erkannte er jetzt, dass alles im Leben vorhersehbar war. Er hätte es wissen, es verstehen müssen, dann hätte er es verhindert, denn wenn einem etwas wirklich wichtig war, konnte man es ändern. Wie konnte er die Anzeichen nicht verstanden haben? Von nun an wollte er sich vorsehen. So etwas durfte nie wieder geschehen. Es würde nun sein ganzes Leben lang seine Schuld bleiben.

Seine Mutter war sein Universum. Und die Welt da draußen war kalt und dumm, sehr dumm, gefühllos. Eigentlich nicht auszuhalten. In zwei Tagen wäre ihr Geburtstag gewesen, er hatte sich schon darauf gefreut. Zu solchen Anlässen blühte sie immer kurz auf.

Raoul war das Beste, was ihr in ihrem sechsunddreißig jährigen Leben geschehen war. Streng genommen war er ihr einziges großes Lebenswerk. Er würde das würdigen und sich in seinem Leben niemals geschlagen geben. In keiner Weise konnte er damals ahnen, wie weltumspannend und lang sein Leben sein würde.

Er hörte, wie die Stimme vor der Tür erklärte, dass die Mutter von Raoul gestorben sei. Sie sei an ihrem Asthma erstickt.

Einen Monat später hatte er zum ersten Mal in seinem Leben nicht Geburtstag, er wurde nicht zehn. Von nun an hatte er nie wieder Geburtstag.

Im Dezember fielen Bomben auf Zürich. Es war jedoch ein irrtümlicher Angriff durch ein im Nebel verirrtes englisches Kampfflugzeug.

Genau zwei Tage nach dem Tod seiner Mutter kam in den Anden Venezuelas ein wunderschönes Mädchen mit einer tiefgründigen, hoch empfindlichen Seele zur Welt, Elba del Rosario Leon Salas — „La Nena“; die Frau seines Lebens.

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